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Eine Geschichte von Fine Winkel

Sie traute ihren Augen nicht. Ganz sicher waren das die Halluzinationen, von denen sie ihre Eltern und andere Erwachsene hatte berichten hören. Die extreme Erschöpfung, der wenige Schlaf, der Hunger. Kein Wunder, dass ihr Trugbilder vor den Augen flimmerten. Vorsichtig strich sie mit ihren Fingern über das brüchige Leinen. Nein, das war keine Halluzination. Sie stand tatsächlich in einem warmen Raum mit deckenhohen Regalen voll von Büchern. Aber wie konnte das sein? Längst waren selbst die berühmtesten Bibliotheken geplündert und die letzten Bücher in den Kaminen verheizt worden. Von den Regalen ganz zu schweigen. Anfangs hatten nur obsolete Telefonbücher, Magazine und trashige Romane verwendet werden dürfen. Aber je weiter sich die Dunkelheit ausgebreitet hatte, je weniger Maschinen funktioniert hatten und je weniger Bäume übriggeblieben waren, desto verzweifelter waren die Menschen geworden. Wie Ratten hatten sie sich um die Feuer geschart. Die Kleider abgetragen und verschmutzt. Die Kehlen trocken, die Bäuche und Wangen hohl. Und nun stand sie hier, inmitten von Reihen um Reihen von Büchern. Niemand im Camp würde ihr das glauben.
Als sie das Knarren einer Bodendiele hinter sich hörte, erstarrte sie. Langsam wandte sie ihren Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dort stand ein alter Mann mit schlohweißem Haar. Nicht schmutzig grau und verfilzt. Weiß. Es war so sauber und gepflegt wie der ganze Mann. Und er lächelte sie an. Das in Stofffetzen gewickelte, verdreckte Mädchen, das in sein Haus eingebrochen war und nun in seiner Bibliothek stand. „Hast du schon einmal eines davon gesehen?" Sie öffnete ihren Mund, aber kein Ton entschlüpfte ihrer Kehle. Also schüttelte sie stumm den Kopf. "Dieses hier könnte dir gefallen." Der alte Mann ging mit schlurfenden Schritten an ihr vorbei und griff nach einem Buch in einem verblassten blauen Umschlag. Mit zitternden Fingern nahm sie den Band entgegen. „Nur zu, schlag es auf." Der Alte nickte ihr zu. Ihre Augen wurden groß, als sie die gezeichneten Illustrationen und Fotos unzähliger Blüten sah. Ihre Eltern hatten ihr davon erzählt, aber sie war zu jung gewesen, als die Dunkelheit gekommen war. Sie konnte sich nicht an das Leben vor den Camps erinnern. Nicht an Blumen, nicht an Bäume und nicht an Tiere. Alles was sie kannte, war die Welt im Bunker und die trostlose Wüste um ihn herum. Und gerade, als sie alle Hoffnung hatte fahren lassen und bereit gewesen war, sich der Dunkelheit zu ergeben, war sie über dieses seltsame kleine Haus gestolpert. Ein Haus, das es so längst schon nicht mehr geben sollte. Voller Bücher, voller Licht und voller Wärme. Und über diesen Mann, der so gar nichts gegen ihre löchrigen, schmutzigen Schuhe auf seinem sauberen Dielenboden zu haben schien. „Wie trinkst du deinen Tee? Mit Milch und Zucker oder mit Zitrone?" Das Mädchen schüttelte seinen Kopf. „Ich hab noch nie..." „Ach, natürlich. Na, das finden wir schon heraus. Irgendwo müsste ich auch noch eine Packung Kekse haben. Lass mich mal schauen." Mit diesen Worten verließ er die Bibliothek und ging weiter in Richtung Küche. Unschlüssig stand das Mädchen noch einen Moment vor dem Regal. Aber als sie den alten Mann mit dem Teekessel klappern hörte, folgte sie ihm. Kekse? Hatte er wirklich Kekse gesagt? Noch so etwas, das sie nur aus den Geschichten der älteren kannte.
Vorsichtig schlich sie durch den Flur. In der Küche war es noch heimeliger als es in dem Raum mit den Büchern gewesen war. In der Ecke stand ein Ofen, von dem eine angenehme Wärme ausging. Davor lag doch tatsächlich ein Hund. Ein echter Hund. Sie musste sich davon abhalten, in ihrer Tasche nach dem alten, schmutzigen Kuscheltier zu tasten, das sie ihr ganzes Leben begleitet hatte. Anders als ihr Snoopy hatte der Hund in dem Körbchen allerdings saubere, weiße Beine und hellbraune Schlappohren. „Das ist Daisy. Du kannst sie ruhig streicheln." Der Alte lächelte. Das Mädchen ließ sich auf die Knie sinken und berührte sanft das seidige Fell des Hundes. Sofort wedelte Daisy mit dem Schwanz und schleckte dem Mädchen über sein Gesicht. "Weißt du, Hunde sind in so mancher Hinsicht viel schlauer als wir Menschen. Sie glauben immer an das Gute in unserer Seele. Und sie haben Vertrauen."
Mit diesen Worten stellte der Alte zwei Tassen mit dampfendem Tee und einen Teller mit Ingwerkeksen auf den Tisch. Als sie sich umwandte, um sich zu ihm an den Tisch zu setzen, fiel ihr Blick auf ein Bild, das über dem Küchentisch hing.

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Es schien die Welt zu zeigen, wie sie war. Mit einem Unterschied. Links und rechts von ihrem dunklen, kalten Planeten waren noch zwei weitere Himmelskörper zu sehen. Sie streckte ihre Hand nach der Leinwand aus. „Es ist wunderschön." Sagte sie zögerlich. „Wie tröstlich wäre es, wenn wir wirklich nicht allein wären in der Dunkelheit." Wieder lächelte er dieses wissende Lächeln. „Aber das sind wir nicht. Wir sind nicht einmal der dunkle Kreis dort in der Mitte, wie man dich glauben gemacht hat. Wir sind der blaue Planet hier ganz links. Und neben uns siehst du den Mond und die Sonne." Er nahm einen Schluck Tee. Das Mädchen tat es ihm nach. Die warme Flüssigkeit war köstlich. Ganz leicht bitter, aber gleichzeitig süß und aromatisch. „Doch unsere Angst vor der Dunkelheit ist fast so alt wie die Menschheit selbst. Und wenn wir es zulassen, lähmt sie uns. Denn je mehr wir vor ihr davonlaufen, desto mehr Raum überlassen wir ihr. Und irgendwann ist kein Ort übrig, an den wir uns noch flüchten können. Denn alles, was wir sehen, ist die Dunkelheit." Der Alte hob seine Tasse in Richtung Fenster. „Du musst nur einmal hinausschauen. Der Mond leuchtet heute Nacht in seiner ganzen Pracht. Und mit ihm spenden Millionen von Sternen uns ihr Licht. Es ist also bei weitem nicht alles dunkel da draußen." Nach einem kurzen Moment wurde sein Lächeln noch breiter. Und wenn wir noch ein kleines bisschen mehr Vertrauen haben, wird die Sonne die Dunkelheit dort draußen morgen früh ganz vertreiben."

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